Lösungen für Probleme, die du nicht hast

Ich hatte alles perfekt organisiert – und fühlte mich trotzdem völlig verloren.

Eine App für Aufgaben. Eine für Projekte. Eine für Gewohnheiten. Eine für Zeittracking.

Farbige Labels. Erinnerungen. Wochenpläne.

Alles sauber sortiert.

Und trotzdem saß ich da an einem ganz normalen Tag mit diesem permanenten Gefühl: Ich bin hinten nach.

Ich habe den ganzen Tag mein System bedient – statt mein Leben zu leben.

Der Knackpunkt kam an einem Abend, an dem ich alles abgehakt hatte und trotzdem nicht sagen konnte, was ich eigentlich geschafft habe.

Ich war müde. Genervt. Innerlich leer.

Nicht, weil ich faul war.

Sondern weil diese Tools für eine Realität gebaut sind, die ich nicht habe.

Was in keiner App auftaucht

Mit "ich muss an alles denken" meine ich nicht Aufgaben im klassischen Sinn.

Keine E-Mails oder Präsentationen.

Ich meine diesen ständigen inneren Hintergrundlärm, der den ganzen Tag mitläuft.

Während ich arbeite, läuft im Kopf:

  • "Ich muss nachher noch einkaufen."

  • "Denk an das Formular für die Schule."

  • "Die Wäsche nicht vergessen."

  • "Heute Abend ist Elternabend, davor darf ich nicht noch was anfangen."

Ich sitze im Meeting und bin nur halb da, weil ich denke: "Wenn ich das jetzt nicht aufschreibe, ist es weg."

Das ist keine schlechte Zeitplanung.

Das ist permanente Alarmbereitschaft im Kopf.

Und genau das taucht in keiner App auf:

  • das Merken-müssen

  • das innerliche Vorplanen

  • das ständige Abwägen

  • diese Angst, etwas zu vergessen und dann "schuld" zu sein

Apps erfassen Aufgaben. Sie erfassen aber nicht die Verantwortung dahinter.

Nicht dieses: "Wenn ich das nicht im Blick habe, fällt es niemandem sonst auf."

Deshalb fühlt sich ein Tag trotz Häkchen schwer an.

Weil die eigentliche Arbeit im Kopf stattfindet.

Die Fantasiewelt der Produktivitäts-Gurus

Diese Systeme setzen eine Lebensrealität voraus, die viele von uns schlicht nicht haben.

Sie gehen davon aus, dass du dich hinsetzt und einfach anfängst zu arbeiten.

Ohne dass im Kopf parallel läuft:

  • "Daran muss ich später noch denken."

  • "Das darf ich nicht vergessen."

  • "Was ist, wenn ich das übersehe?"

In ihrer Welt ist der Kopf ruhig, während gearbeitet wird.

Sie setzen voraus, dass du bei einer Sache bleiben kannst, ohne ständig innerlich umzuschalten.

Dass du nicht gleichzeitig Arbeit machst, Termine im Blick behältst, an andere denkst und Verantwortung mitträgst.

In meiner Realität läuft all das gleichzeitig.

Sie planen Tage, die nicht ständig unterbrochen werden.

Tage, an denen du anfängst und einfach dranbleibst.

Nicht: kurz anfangen, unterbrochen werden, wieder reinkommen, neu sortieren, wieder von vorn anfangen.

Ihre Systeme brauchen zusammenhängende Zeit. Mein Alltag war zerstückelt.

Sie gehen davon aus, dass du Dinge vergessen darfst.

Dass Fehler keine großen Folgen haben.

Dass jemand anders auffängt, wenn du es nicht schaffst.

In meiner Realität war klar: Wenn ich nicht dran denke, denkt niemand dran.

Das erzeugt Daueranspannung.

Und sie setzen voraus, dass du jeden Tag gleich funktionierst.

Gleiche Energie. Gleiche Belastbarkeit. Gleiche Konzentration.

Mein Alltag hatte schlechte Nächte, volle Tage, leere Akkus.

Nicht als Ausnahme, sondern als Normalzustand.

Die unsichtbare Last ist messbar

Das ist keine Einbildung. Das ist Realität – mit Zahlen belegt.

In Deutschland:

  • Die Wahrscheinlichkeit, dass Frauen die Alltagsaufgaben im Haushalt planen, organisieren und daran denken, liegt bei 62%

  • Bei Männern? Nur 20%

  • Leben Kinder im Haushalt, steigt die Wahrscheinlichkeit bei Frauen auf 74%

  • Hausarbeit wird zu 72% von Frauen geleistet, Kinderbetreuung sogar zu 88%

In Österreich:

  • Frauen leisten täglich knapp 4,5 Stunden unbezahlte Arbeit

  • Das sind 2 Stunden mehr als Männer – jeden Tag

  • Frauen werden nur für ca. 40% ihrer gesamten Arbeit entlohnt

In der Schweiz:

  • Frauen wendeten durchschnittlich 28,1 Stunden pro Woche für Haus- und Familienarbeit auf

  • Männer: 17,9 Stunden

Diese Art von Arbeit ist zeitintensiv und schwappt in Arbeits- und Freizeit über.

Sie erzeugt eine chronische kognitive Last, die die Leistung bei anderen Aufgaben beeinträchtigt.

Und diese Last taucht in keinem Produktivitäts-Tool auf.

Das Problem ist nicht persönliches Zeitmanagement.

Das Problem ist eine strukturelle Ungleichverteilung von Verantwortung, die niemand sehen will.

Warum das Geschäftsmodell trotzdem boomt

Der Software-Markt ist der am stärksten wachsende IT-Bereich in Deutschland.

2024 wurden hier rund 46,5 Milliarden Euro mit Software erwirtschaftet – mit einem Wachstum von 9,8% im Vergleich zum Vorjahr.

In Österreich steigt der Softwaremarkt bis 2027 um 23,5%. In ganz Europa wird ein Wachstum von über 25% bis 2028 prognostiziert.

Warum funktioniert das so gut, obwohl die Systeme an unserer Realität vorbeigehen?

Weil Hoffnung verkauft wird.

Nicht die Hoffnung auf weniger Last.

Sondern auf ein anderes Ich. Eines, das organisierter, ruhiger, disziplinierter ist und endlich alles im Griff hat.

Wenn du erschöpft bist, kaufst du diese Hoffnung sofort.

Noch eine App. Noch ein Kurs. Noch ein Versuch.

Vielleicht klappt es ja diesmal.

Was dabei nie gesagt wird:

Diese Systeme rechnen nicht mit einem Kopf, der permanent mitläuft.

Nicht mit Verantwortung. Nicht mit Schuldgefühlen. Nicht mit diesem inneren Dauer-"Ich darf nichts vergessen".

Und statt zu sagen "Dafür sind wir nicht gemacht", heißt es: "Du machst es falsch."

Bequemer für den Anbieter. Zermürbend für dich.

Gebaut für eine andere Ausgangslage

Wenn ich sage "oder einfach für Männer", meine ich nicht: Männer sind besser organisiert oder disziplinierter.

Ich meine: Sie leben oft in einer anderen Ausgangslage.

Diese Produktivitäts-Systeme funktionieren besonders gut, wenn du morgens aufstehst und dein Kopf dir gehört.

Wenn du nicht schon beim Zähneputzen denkst:

  • Wer braucht heute was?

  • Was darf ich auf keinen Fall vergessen?

  • Wo muss ich mitdenken?

Viele Männer starten ihren Arbeitstag gedanklich leerer.

Nicht weil sie weniger Verantwortung hätten – sondern weil sie weniger unsichtbare Verantwortung tragen.

Diese Systeme gehen davon aus, dass Arbeit Arbeit ist und der Rest später kommt.

Dass man sich für ein paar Stunden rausziehen kann und in dieser Zeit nichts anderes mitläuft.

Für viele Männer ist das normal.

Für viele Frauen ist das Luxus.

Produktivitäts-Systeme rechnen auch damit, dass jemand anders den Alltag puffert.

Dass Termine organisiert sind. Dass an Geburtstage gedacht wird. Dass jemand merkt, wenn etwas fehlt.

Wenn du nicht diese Person bist, fühlt sich Planung plötzlich leicht an.

Dann ist ein Kalender wirklich nur ein Kalender.

Und keine Gedächtnisstütze fürs ganze Leben.

Viele Männer dürfen Dinge vergessen, ohne dass daraus sofort Schuld entsteht.

Frauen lernen früh: Vergessen hat Konsequenzen.

Für andere. Und emotional auch für sie selbst.

Das verändert alles.

Der Wendepunkt

Mein Klick-Moment war banal.

Und genau deshalb so brutal ehrlich.

Ich saß da nach einem vollen Tag.

Ich hatte gearbeitet, organisiert, reagiert, erinnert, abgefangen, mitgedacht.

Und trotzdem saß ich da mit diesem Gefühl: Ich bin den ganzen Tag gerannt – aber nichts ist fertig.

Mein erster Gedanke war wie immer: "Ich muss mich mehr anstrengen."

Dann kam dieser zweite Gedanke. Leise. Nervig. Unbequem.

Wie bitte soll das noch gehen?

Nicht trotzig. Nicht jammernd.

Sondern nüchtern.

Ich war nicht am Limit, weil ich zu wenig gemacht hatte.

Ich war am Limit, weil ich permanent zu viel getragen habe.

Das ist kein Motivationsproblem. Das ist ein Konstruktionsfehler.

Ein System, das davon ausgeht, dass ich mich nur hinsetzen und arbeiten muss, während mein Kopf ruhig bleibt.

Ein System, das ignoriert, dass mein Denken den ganzen Tag mitläuft – für alle. Für alles.

Ab da habe ich aufgehört zu fragen: "Wie kann ich das besser schaffen?"

Und angefangen zu fragen: "Was muss mir abgenommen werden, damit ich überhaupt Luft habe?"

Du bist nicht kaputt

Wenn du dich gerade genauso fühlst, will ich dir als Erstes sagen:

Du bist nicht kaputt. Und du bist auch nicht zu wenig diszipliniert. Du bist einfach schon viel zu lange diejenige, die alles trägt.

Du bist nicht erschöpft, weil du zu wenig tust.

Du bist erschöpft, weil du zu viel im Kopf hast, das niemand sieht.

Nicht nur Aufgaben.

Verantwortung. Mitdenken. Vorausschau.

Dieses ständige innere "Ich darf nichts vergessen".

Kein System der Welt wird dir helfen, wenn es davon ausgeht, dass du einfach noch mehr unterbringen musst.

Das Problem ist nicht: Wie packe ich noch mehr rein?

Die ehrliche Frage ist: Was darf ich endlich nicht mehr tragen?

Das ist unbequem. Weil man uns nie beigebracht hat, so zu denken.

Uns wurde beigebracht: streng dich mehr an, reiß dich zusammen, optimier dich noch ein bisschen.

Aber Entlastung funktioniert genau andersrum.

Der allererste Schritt

Wenn eine Frau das liest und denkt "Ja verdammt, genau so fühle ich mich" – dann ist der allererste Schritt nicht ein neues System.

Hör heute auf, innerlich alles mitzuschleppen.

Nicht für immer. Nicht heroisch. Nur für heute.

Nimm dir ein Blatt Papier. Kein hübsches. Kein Planer. Einfach irgendwas.

Und dann schreib genau eine Liste. Nicht mit Aufgaben. Sondern mit allem, was gerade in deinem Kopf rumschwirrt:

  • Daran muss ich noch denken

  • Das darf ich nicht vergessen

  • Das liegt mir im Nacken

  • Das macht Druck

  • Das kommt irgendwann noch

Unsortiert. Unschön. Ungeschönt.

Und jetzt kommt der wichtige Teil: Schau diese Liste an und markiere maximal drei Dinge, bei denen du sagst:

"Wenn ich mich heute NUR darum kümmere, ist genug."

Nicht perfekt. Nicht alles erledigt. Sondern genug für heute.

Der Rest? Bleibt stehen. Ohne Schuld. Ohne Erklärung.

Warum das wirkt:

Weil dein Kopf gerade nicht überlastet ist, weil du zu wenig machst.

Sondern weil er nichts loslassen darf.

Diese eine Entscheidung – "Heute kümmere ich mich nur um das hier" – nimmt sofort Druck raus.

Nicht morgen. Jetzt.

Und wenn du heute Abend denkst: "Mehr ging einfach nicht."

Dann ist die Antwort nicht: "Ich hätte mich mehr anstrengen müssen."

Sondern: "Ich habe realistisch entschieden."

Das ist kein kleines Ding. Das ist der erste Riss im Hamsterrad.

Was ich damals gebraucht hätte

Ich hätte keinen Tipp gebraucht.

Kein Tool. Keinen schlauen Satz zum Aufhängen.

Ich hätte jemanden gebraucht, der mir mein eigenes Erleben zurückspiegelt – ohne es zu bewerten.

Jemand, der sagt:

"Warte mal kurz. Du bist müde, obwohl du den ganzen Tag gerannt bist. Du hast alles im Kopf, obwohl du nichts vergessen hast. Du bist erschöpft, obwohl du dich ständig zusammenreißt. Findest du das wirklich logisch, dass du das Problem sein sollst?"

Das hätte gesessen.

Ich hätte gebraucht, dass mir jemand die richtigen Fragen stellt:

  • Wer denkt hier eigentlich die ganze Zeit mit?

  • Wer trägt die Verantwortung, auch wenn nichts sichtbar ist?

  • Wer darf hier nie einfach abschalten?

Und dann mal kurz Stille.

Ich hätte gebraucht, dass mir jemand die Schuld vom Rücken nimmt, ohne mir sofort eine neue Aufgabe draufzupacken.

Nicht: "Du bist nicht das Problem – und hier ist dein 10-Schritte-Plan."

Sondern: "Du bist nicht das Problem. Punkt. Lass das erst mal wirken."

Rückblickend weiß ich:

Ich war nicht blind. Ich war müde.

Und müde Menschen brauchen keine Motivation.

Sie brauchen Verständnis.

Und jemanden, der laut ausspricht, was sie sich selbst nicht erlauben zu denken:

Dass dieses ständige Funktionieren kein persönliches Versagen ist.

Sondern eine Überforderung, die viel zu lange normalisiert wurde.

Das hätte mir die Augen geöffnet.

Nicht auf einen Schlag. Aber nachhaltig.

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